Dr. Max Stadler

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Donnerstag, 3. Januar 2013

Gebt ihnen ihr Recht

In ihrem epochalen Urteil schreiben die Karlsruher Richter den Politikern genau vor, wie die Sicherungsverwahrung zu regeln ist

Von Wolfgang Janisch

Dass Außergewöhnliches vor sich geht, konnte man bei der Verlesung des Tenors nur ahnen, vermutlich war es eine der längsten und unverständlichsten Urteilsformeln in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts. Quälende 11 Minuten lang zitierte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle dem geduldig stehenden Publikum im Karlsruher Gerichtssaal so ziemlich jeden Paragraphen, der seit anderthalb Jahrzehnten zum Thema Sicherungsverwahrung erlassen worden ist. Und weil die deutsche Grammatik die Auflösung immer ans Ende stellt, fiel das Wörtchen, das nicht weniger als einen Paradigmenwechsel bedeutet, erstmals nach 4 Minuten und 16 Sekunden: All dies sei mit dem Grundgesetz 'unvereinbar'.

Die Sicherungsverwahrung, das Schmuddelkind der deutschen Rechtspolitik, muss vollständig überarbeitet werden. Und sie darf nie mehr so ausschauen, wie sie vielfach bis heute aussieht: nach bloßem Verwahrvollzug, nach einem Abstellgleis, auf das man gefährliche Straftäter bis ans Ende ihrer Tage abschiebt. Mit einem neuen Gesamtkonzept müssen Bund und Länder die Sicherungsverwahrung auf Therapie und Behandlung ausrichten, mit anderen Worten: darauf, dass der Straftäter möglichst wieder freigelassen werden kann. 'Die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit muss sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimmen', formulieren die Richter. Gerhard Schröders vielzitierte Forderung 'Wegsperren, und zwar für immer' ist damit höchstrichterlich atomisiert worden.

Zwar gehört Max Stadler zu denen, die den Karlsruher Spruch ausbaden müssen, dennoch jubelte der Staatssekretär aus dem Bundesjustizministerium, dies sei ein 'epochales Urteil'. Das ist nicht übertrieben. Denn was der Zweite Senat dem Bund und den Ländern bis ins Detail vorschreibt, kommt einer Revolution von oben gleich. Schon im Strafvollzug müssen die therapeutischen Bemühungen einsetzen, und spätestens nach dessen Ende - also wenn die Sicherungsverwahrung beginnt - muss der Betroffene untersucht, seine Gefährlichkeit analysiert und ein Maßnahmebündel geschnürt werden: berufliche Bildung, familiäre Kontakte, Psycho- oder Sozialtherapie, Arbeits- und Freizeitangebot - all das, was die Rückfallgefahr mindert und eine Entlassung wahrscheinlicher macht, muss zum Einsatz kommen. Derzeit schaut es da eher düster aus: Das Gericht zitiert Studien, wonach 80 Prozent der rund 500 Sicherungsverwahrten behandlungsbedürftig seien - doch nur 30 Prozent würden therapiert.

Dass der Zweite Senat einen modernen Behandlungsvollzug bis hinters Komma in eigener Hoheit dekretiert, hat natürlich auch mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu tun, der die deutsche Sicherungsverwahrung 2009 als Etikettenschwindel bezeichnet und damit Politik sowie Gerichte auf Trab gebracht hatte. Den vom EGMR geforderten 'Abstand' zur Strafhaft - Sicherungsverwahrte haben ihre eigentliche Strafe ja schon verbüßt und deshalb Anspruch auf bessere und behandlungsorientierte Unterbringung - hatte Karlsruhe zwar bereits schon 2004 erwähnt, aber eben doch so leise, dass Bund und Länder getrost weghören konnten. Vor allem aber ist den Richtern in der Anschauung des - so nennt es Max Stadler - 'gesetzgeberischen Flickwerks' der vergangenen Jahre klar geworden, dass allein das Bundesverfassungsgericht hinreichend gegen populistischen Druck resistent ist, um den großen Wurf zu wagen; die Politik knickt regelmäßig ein, sobald der Ruf nach der harten Hand gegen Kinderschänder und Vergewaltiger ertönt. Da traf es sich gut, dass Herbert Landau - zusammen mit Voßkuhle federführender 'Berichterstatter' in dem Verfahren - als ehemaliger hessischer Justizstaatssekretär fachlich im Stoff war.

Freilich scheute auch Karlsruhe die allerletzte Konsequenz aus dem Straßburger Urteil - nämlich sämtliche rund 120 Sicherungsverwahrte auf freien Fuß zu setzen, die menschenrechtswidrig hinter Gittern sitzen. Einige Dutzend werden aber in den nächsten Monaten wohl freigelassen werden müssen, denn die Vorgaben für ihre weitere Verwahrung sind streng: Eine hochgradige Gefahr für schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten muss festgestellt werden, dazu eine 'psychische Störung'.

Für die Politik wird die Umsetzung der Karlsruher Vorgaben nicht leicht sein. Der Bund soll die Leitlinien vorgeben, allerdings sind die Länder seit der Föderalismusreform von 2006 für den Strafvollzug zuständig. Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) rief nach der Urteilsverkündung zur Kooperation auf: 'Es ist wichtig, dass Bund und Länder an einem Strang ziehen.'

Spannungsgeladen dürfte dabei vor allem die Zusammenarbeit mit den Finanzministern werden. Denn was Karlsruhe fordert, kostet Geld: Zusätzliches Personal muss her, außerdem Neubauten, weil Strafvollzug und Sicherungsverwahrung räumlich deutlicher getrennt werden müssen. Merk veranschlagt allein den geplanten Neubau der Justizvollzugsanstalt Straubing mit 20 Millionen Euro.

Der eigentliche Auslöser des Verfahrens - der umtriebige EGMR aus Straßburg - wird in dem Urteil mit einigen schmallippigen Freundlichkeiten auf Distanz gehalten. Dessen Entscheidungen hätten eine 'jedenfalls faktische Orientierungs- und Leitfunktion' und seien als 'Auslegungshilfen' zu berücksichtigen, natürlich nur, wenn sie dem deutschen Grundrechtsschutz nicht abträglich seien. Dabei wäre auch ein wenig Dankbarkeit angezeigt: Ohne den Anstoß aus Straßburg wäre Schröders Wegsperr-Doktrin immer noch in Kraft.


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