Von der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zur nachträglichen Sicherungsverwahrung betroffene Personen
Fragestunde - Protokoll Nr. 86 vom 26.01.2011Wir kommen zur Frage 11 des Kollegen Jerzy Montag:
Welche Auffassung vertritt die Bundesregierung in der Frage, wie viele Fälle von der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 13. Januar 2011 (Beschwerdenummer 6587/04) betroffen sind, wo zwar nach einigen Medienberichten das Urteil vom 13. Januar 2011 nicht mehr als die 20 Fälle derer betreffen soll, die derzeit in nachträglicher Sicherungsverwahrung sitzen (vergleiche Süddeutsche Zeitung vom 13. Januar 2011), während nach anderen Berichten nicht weniger als „Tausende Strafgefangene“ betroffen sind, die die formellen Voraussetzungen nachträglicher Sicherungsverwahrung auch nach der Reform der Sicherungsverwahrung weiterhin erfüllen (vergleiche Kreuzer, in: Zeit Online vom 14. Januar 2011)?
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz:
Herr Kollege Montag, bei der in Ihrer Frage angesprochenen Entscheidung vom 13. Januar 2011 handelt es sich um eine Einzelfallentscheidung. Sie betrifft die Unterbringung des Beschwerdeführers aufgrund eines Landesgesetzes, das aber bereits im Jahr 2004 vom Bundesverfassungsgericht wegen eines Verstoßes gegen Kompetenznormen für verfassungswidrig erklärt wurde. Zufällig handelt es sich im Übrigen um einen Fall, der seinen Ausgang beim Landgericht Passau genommen hatte, dem ich früher angehört habe. Mit den Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung im Strafgesetzbuch nach § 66 b StGB befasst sich die Entscheidung dagegen nicht, sodass keine weiteren Fälle unmittelbar betroffen sind.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Montag, Sie haben eine Nachfrage? – Bitte sehr.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Stadler, ich muss Sie korrigieren: In dem betreffenden Fall M. ging es erstmals um eine Entscheidung über Sicherungsverwahrung nach bayerischem Recht, aber zu diesem Zeitpunkt ging es um eine Entscheidung über eine nachträgliche Sicherungsverwahrung nach altem Recht; denn inzwischen war der Strafgefangene bzw. Sicherungsverwahrte schon übergeführt worden.
Aber das war nicht der Sinn und auch nicht der Wortlaut meiner Frage. Auf meine Frage haben Sie nicht geantwortet. Bei der Frage 11, jedenfalls nach meiner Liste, ging es um Folgendes: Die Bundesregierung hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung zum 1. Januar 2011 geändert und radikal für die Zukunft zusammengeschnitten. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass es sich nach dieser Reform in der Zukunft nur noch um die Fälle von 20 bis 30 Personen handeln wird, die mit dem Problem der nachträglichen Sicherungsverwahrung konfrontiert sein werden? Oder wird es sich um Tausende von Fällen auf Jahrzehnte hinaus handeln, wie in der Presse in den letzten Tagen zu lesen war? Das war der Wortlaut meiner Frage.
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz:
Lieber Herr Kollege Montag, darauf gehe ich gerne ein. Zunächst haben Sie zu Recht dargestellt, dass die Bundesregierung das Rechtsinstitut der nachträglichen Sicherungsverwahrung sehr kritisch bewertet hat. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist bekanntlich während der Regierungszeit von SPD und Grünen ab dem Jahr 2004 eingeführt worden. Wir waren der Auffassung, dass sie sich nicht bewährt hat, und haben sie daher pro futuro abgeschafft. Allerdings hat eine Mehrheit des Bundestages auf Vorschlag unseres Hauses die Entscheidung getroffen, dass sie für Altfälle weiterhin gelten soll.
Nun haben Sie auf Zahlen rekurriert, die unter anderem von Professor Kreuzer in einem Aufsatz erwähnt worden sind. Dazu habe ich folgende Erkenntnisse: In der Tat ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung nur in ungefähr 20 Fällen angeordnet worden. Dabei handelt es sich immer um sogenannte Altfälle, bei denen die entsprechenden Taten und Verurteilungen vor dem von Rot-Grün eingeführten Rechtsinstitut der nachträglichen Sicherungsverwahrung lagen. Darüber hinaus ist selbstverständlich denkbar, dass es weitere Altfälle aus der Zeit vor 2004 gibt, bei denen bisher noch keine nachträgliche Sicherungsverwahrung beantragt oder entschieden worden ist, und dass es zudem eine weitere Gruppe von Fällen einer nachträglichen Sicherungsverwahrung geben kann, nämlich die sogenannten Neufälle aus dem Zeitraum von 2004 bis 31. Dezember 2010. Zu diesem Zeitpunkt haben wir das Rechtsinstitut abgeschafft.
Es liegen uns keine belastbaren Erkenntnisse darüber vor, wie viele Fälle das insgesamt sind. Herr Professor Kreuzer hat sich bei seiner Aussage, dass es sehr viele Fälle sein könnten, auf die formellen Voraussetzungen bezogen. Das ist zutreffend. Hinzukommen musste aber, dass sogenannte Nova, neue Tatsachen, während der Haftzeit entstanden waren und eine Gefährlichkeitsprognose gestellt werden musste. Hier gelten aber nicht mehr alle Tatbestände, die früher einmal gegolten haben. Da das Verfahren also mehrere Faktoren umfasst, kann man keine präzise Vorhersage treffen, wie viele solcher Anordnungen aufgrund alten Rechts noch getroffen werden könnten.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Montag, Sie haben eine weitere Nachfrage? – Bitte sehr.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Eine weitere Nachfrage habe ich, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Stadler, ich persönlich und auch meine Fraktion stimmen der Einschätzung der Bundesregierung zu, dass sich die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht bewährt hat. Es ist richtig – wir haben die gleichen Zahlen –, dass sie in nicht mehr als 20 bis 25 Fällen angewandt worden ist. Wir wären froh gewesen, wenn die Bundesregierung oder die Koalition die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht nur ad futurum, sondern auch für die Fälle, die Sie zum Schluss geschildert haben, abgeschafft hätte.
Ich frage Sie ganz konkret: Wir haben einen Täter, der im November 2010 mehrere einschlägige schwerste Straftaten begeht. Diese Taten werden dem Täter erst in 14 Jahren zugerechnet. In 14 Jahren bekommt der Täter für diese Taten dann eine Strafe von 14 Jahren. Von heute aus gesehen in 28 Jahren soll er entlassen werden. Wenn kurz vor der Entlassung in 28 Jahren die formellen Voraussetzungen für eine nachträgliche Sicherungsverwahrung gegeben sind – es Nova gibt und die Gefährlichkeitsprognose durch zwei Sachverständige unterstützt wird –, würde das, wenn wir nichts ändern, dazu führen, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung, die die Koalition jetzt abgeschafft hat, in 28 Jahren immer noch angewendet wird? Stimmen Sie dem zu?
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz:
Herr Kollege Montag, über diese Frage haben wir bei der Reform der Sicherungsverwahrung vor wenigen Wochen hier im Plenum, im Ausschuss und in Berichterstattergesprächen ausführlich gesprochen. Es liegt nun einmal im Wesen eines Stichtags, ab dem man ein neues System einführt, dass ein altes System und alte Regelungen weiter gelten können. Sie haben versucht, ein argumentum ad absurdum aufzubauen; das ist immer eine starke Argumentationsfigur.
In der Tat waren wir uns bei unserer Entscheidung darüber im Klaren, dass man Fälle bilden kann, bei denen noch für einen längeren Zeitraum die Möglichkeit der nachträglichen Anordnung einer Sicherungsverwahrung besteht, da das alte Recht noch bis zu dem Zeitpunkt fortgilt, ab dem wir es durch ein völlig neues System ersetzt haben.
Ob es in einem solchen Fall wirklich zu einer Anordnung kommen würde, kann jetzt natürlich noch niemand vorhersagen. Das hängt von vielen Faktoren ab. Sie haben einige zu Recht aufgezählt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Dann kommen wir zu Frage 12, ebenfalls des Kollegen Montag:
Mit welcher Begründung wird die Bundesregierung gegen das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 13. Januar 2011 (Beschwerdenummer 6587/04), wonach die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist, Beschwerde einlegen (vergleiche entsprechende Äußerungen aus der Fraktion der CDU/CSU, dpa vom 13. Januar 2011)?
Herr Staatssekretär.
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz:
Es geht wieder um denselben Vorgang, und Herr Kollege Montag will wissen, mit welcher Begründung die Bundesregierung Beschwerde einlegen wird. Es ist erneut darauf hinzuweisen, dass es sich bei dieser Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 13. Januar 2011 um eine Einzelfallentscheidung gehandelt hat, die sich, wie ich vorhin schon dargestellt habe, auf ein vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärtes Landesgesetz bezogen hat.
Das spricht daf��r, dass man keinen Rechtsbehelf dagegen einlegt. Aber die Bundesregierung hat noch nicht abschließend entschieden, ob sie einen Rechtsbehelf einlegen wird oder nicht. Demgemäß vermag ich die Frage nach der Begründung jetzt nicht zu beantworten, da auch die Möglichkeit besteht, dass gar kein Rechtsbehelf eingelegt wird.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Montag, eine Nachfrage?
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja, eine Nachfrage habe ich dazu. Es ist erfreulich, dass die Bundesregierung diese Frage noch prüft und sich nicht vorschnell festgelegt hat, wie wir es in der Presse als Forderung der Koalition gelesen haben.
Ich frage Sie, Herr Kollege Stadler, ob folgende Tatsachen bei dieser noch zu fällenden Entscheidung eine Rolle spielen werden: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ja in der allseits bekannten Entscheidung zur Sicherungsverwahrung vom Dezember 2009 die Bundesrepublik Deutschland verurteilt. Die Bundesregierung ist entgegen dem Rat vieler Fachleute in die Beschwerde gegangen. Im Mai 2010 mussten wir feststellen, dass die Große Beschwerdekammer die Beschwerde der Bundesrepublik Deutschland bzw. der Bundesregierung nicht einmal zur Sachentscheidung angenommen hat.
Danach hat die damalige deutsche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Renate Jaeger in der deutschen Presse ein Interview gegeben, in dem sie zum Verhalten der Bundesregierung bei der Einlegung von Beschwerden sagt: Wir werden so lange entscheiden, bis die deutsche Regierung begriffen hat. Werden diese Überlegungen eine Rolle spielen, wenn es darum geht, eventuell wieder Beschwerde gegen die Entscheidung einzulegen?
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz:
Herr Kollege Montag, bei der Entscheidung aus dem Jahr 2009, die Sie erwähnt haben, ging es um einen Sachverhalt, bei dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot angenommen hat. Bei dem gleichen Sachverhalt hatte zuvor das Bundesverfassungsgericht einen solchen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot nicht angenommen. Es handelte sich um eine grundlegende Frage, bei der zwei höchst angesehene oberste Gerichte unterschiedliche Entscheidungen getroffen haben. Ich glaube, dass die Bundesregierung nicht dafür getadelt werden kann, dass sie mit einem Rechtsbehelf diese schwierige, vom Bundesverfassungsgericht anders bewertete Frage einer endgültigen Klärung zuführen wollte.
Sie haben zu Recht erwähnt, dass es bei dieser Entscheidung geblieben ist. Am 13. Januar 2011 sind andere Parallelfälle entschieden worden. In diesen Fällen bietet es sich an, keinen Rechtsbehelf einzulegen, weil so gestaltete Fälle schon im Jahr 2009 rechtskräftig entschieden worden sind.
Bei dem anderen Fall, dem Fall aus Passau, hängt die Entscheidung davon ab, ob man ihn als Einzelfall bewertet, der für die Zukunft keine besondere Bedeutung hat, oder ob man ihm eine grundsätzliche Bedeutung beimisst und deswegen eine Überprüfung herbeiführen möchte. Das gilt es abzuwägen. Diese Prüfung ist, wie gesagt, im Gange und noch nicht abgeschlossen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Haben Sie eine weitere Nachfrage? – Das ist nicht der Fall.