Todestag Thomas Dehler
Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs bei der Bundesministerin der Justiz, Dr. Max Stadler, MdB, anlässlich des Todestages von Thomas Dehler am 21. Juli 2012 in Bamberg
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Damen und Herren,
der Todestag von Thomas Dehler ist mir noch sehr gut in Erinnerung. Wir befanden uns damals auf einer Klassenfahrt in England. Ich war ein politisch zwar interessierter Jugendlicher, hatte aber bis dahin keinerlei Bezug zu Thomas Dehler. Ganz anders war es bei unserem Englischlehrer, der die Nachricht vom Tode Thomas Dehlers im Radio hörte. Er war davon sehr berührt und schilderte uns Schülern, dass er Thomas Dehler als mitreißenden und äußerst temperamentvollen Redner Bundestag besonders geschätzt habe, wenngleich dieser bisweilen – beispielsweise in seinen Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften – übers Ziel hinausgeschossen sei. Die Bewunderung, die unser Lehrer Thomas Dehler entgegenbrachte, scheint aber überwogen zu haben, denn er entschloss sich wenig später, selber der FDP beizutreten.
Die kleine Episode zeigt jedenfalls was sich bei denen, die Thomas Dehler bewusst erlebt haben, tief eingeprägt hat: Das Bild eines leidenschaftlichen, temperamentvollen Politikers mit rhetorischer Brillanz. Ein Politiker, der mit persönlichem Mut und ohne Scheu vor Konflikten für seine Sache gekämpft hat, gegen Nationalsozialismus, Klerikalismus und Sozialismus, für die Sache der Freiheit.
Dies sind auch die Charakteristika, die noch heute in der Distanz von fast einem halben Jahrhundert, Thomas Dehler zugeschrieben werden. Thomas Dehler hat damit Maßstäbe gesetzt, die von denen, die ihm in seinen hohen Ämtern gefolgt sind, nur schwer erfüllt werden können. Wahrscheinlich ist es unmöglich, aber auch gar nicht sinnvoll, Thomas Dehler kopieren zu wollen. Er hatte seinen ganz eigenen Stil und andere haben ebenfalls ihren eigenen Stil entwickelt.
Sein liberaler Weggefährte Reinhold Maier, Ministerpräsident Baden-Württembergs, soll einmal das bekannte Bonmot benutzt haben: "Ein Franke ist ein missglückter Versuch, einen Österreicher zum Preußen zu machen." „Der Franke Dehler war jedenfalls so von preußischem Arbeitsethos geprägt, dass er, wie Zeitgenossen vermerkt haben, als Minister auch abends und am Wochenende ständig in Aktion war und selbstverständlich erwartete, dass auch seine Mitarbeiter stets erreichbar waren. Hier kann ich eine gewisse Kontinuität zur heutigen Hausleitung des BMJ feststellen, wobei die permanente Kommunikation in Echtzeit mit I-Pad und Handy heute ungleich einfacher ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Das Lebenswerk von Thomas Dehler ist vielfach und aus ähnlichen Anlässen wie heute beschrieben worden. Jeder, der sich auch nur ein wenig mit seiner Person befasst hat, kennt die Stationen. Zu nennen sind u. a.
- Mut in schwerer Zeit in der Konfrontation mit den Nazis
- eine glänzende berufliche Laufbahn gerade hier in Bamberg
- die Verdienste um die Gründung und Führung der FDP und sein klares Eintreten gegen deren Unterwanderung von rechts
- die markante Amtsführung als erster Bundesjustizminister
- die kämpferischen Auseinandersetzungen um den von ihm als Landesvorsitzenden bestimmten Kurs der bayerischen Liberalen
- die Courage, in Bayern das – freilich bald gescheiterte - Experiment einer Vierer-Koalition gegen die CSU zu wagen
- die Differenzen mit dem Bundesverfassungsgericht
- Zusammenarbeit und Zwist mit Konrad Adenauer
- Glanzlichter des Parlamentarismus, die Thomas Dehler mit Reden, wie beispielsweise zur Frage der Rückwirkung von Verjährungsvorschriften gesetzt hat.
All dies ist so oft beschrieben und gewürdigt worden, dass ich dem heute nichts Neues hinzufügen kann außer vielleicht einer kleinen Anekdote, die mir Bundestagsvizepräsident a. D. Dr. Burkhard Hirsch kürzlich erzählt hat. Demnach war Thomas Dehler in den 50er Jahren vom Liberalen Studentenbund in Marburg einmal zu einer politischen Versammlung eingeladen worden. Dehler hatte kurz zuvor den Deutschen Gewerkschaftsbund für zuchthauswürdig erklärt. Mit Rücksicht auf das „wohltemperierte Marburger Bürgertum“, wie Hirsch es beschrieb, bestand bei den Gastgebern der Wunsch, dass es sich eher um einen maßvoll ablaufenden Abend handeln sollte, bei dem man mit einer zurückhaltenden Rede von Thomas Dehler durchaus zufrieden sei. Burkhard Hirsch, später und bis heute selbst ein scharfzüngiger Redner, sollte diesen Wunsch Thomas Dehler schonend beibringen. Dehler antwortete: „Ach wissen Sie, ich nehme mir ja immer das Beste vor. Aber wenn ich dann da oben stehe, dann rede erst ich und dann redet es aus mir!“ Unnötig zu erwähnen, dass Thomas Dehler auch an diesem Abend richtig in Schwung geriet und eine donnernde Rede hielt. Jedenfalls das studentische Publikum war begeistert.
Es wird ja immer gesagt, dass Dehler mehr durch seine Reden bewirkt habe als durch seine Amtsführung als Bundesjustizminister. Die berühmte Rede Dehlers gegen die von der Bayernpartei beantragte Wiedereinführung der Todesstrafe war tatsächlich nach allgemeiner Meinung wohl seine eindrucksvollste rhetorische Leistung im deutschen Bundestag, dem er immerhin fast zwei Jahrzehnte bis zu seinem Tode angehörte, zeitweise als Fraktionsvorsitzender, dann bis zum Ende lange Jahre als Bundestagsvizepräsident. gegen eine Mehrheitsmeinung von 74 Prozent in der Bevölkerung hat Dehler das Verbot der Todesstrafe weiterhin durchgesetzt.
Unvergessen ist auch das leidenschaftliche Plädoyer Dehlers gegen eine nachträgliche Verlängerung von Verjährungsfristen. Natürlich ging es ihm nicht darum, Nazi-Verbrechen ungesühnt zu lassen, sondern um die strikte Anwendung des rechtsstaatlichen Prinzips des Rückwirkungsverbotes. Bekanntlich hat – wohl aufgrund der speziellen historischen Einbettung der Problematik – sich hier ein anderer glänzender Redner durchgesetzt, Ernst Benda, der sich damit für die spätere Wahl zum Verfassungsgerichtspräsidenten empfohlen hatte.
Dehlers Reden waren als Glanzlichter der Parlamentsgeschichte. Und zugleich überschattete immer wieder die Maßlosigkeit mancher Formulierungen die wichtigen Inhalte, die Dehler vertrat. Der „Spiegel“ hat schon am 18. August 1953 eine lange Reihe von Dehler-Zitaten aufgelistet, bei denen man im Nachhinein denkt, dass nicht ein hochgebildeter und kultivierter Mensch wie Thomas Dehler ihr Urheber sei, sondern – nicht vom Inhalt, aber vom Stil her – ein notorischer Zwischenrufer wie Herbert Wehner.
Auf die Wiederholung der durchaus ja bekannten Dehler-Zitate verzichtet kaum jemand, gibt man dadurch dem eigenen Vortrag eine gewisse Würze. Es geziemt sich beim heutigen Festakt aber eher doch nicht.
Ich belasse es bei der damaligen Zusammenfassung im Spiegel: „Wenn er den Mund auftut, rauscht es in den Blättern aller politischen Richtungen. Im politischen Ursprung ist Dehlers Kritik fast immer berechtigt, in der Formulierung aber hoffnungslos überspitzt. Thomas Dehler hat selbst da feindliche Armeen aus dem Boden gestampft und gegen sich aufgebracht, wo vorher eitel Frieden herrschte.“
Bemerkenswert ist nach wie vor, welche Rätsel Thomas Dehler durch sein unterschiedliches Auftreten seinen Zeitgenossen aufgegeben hat. Im Privaten war er bescheiden und überaus zuvorkommend. Eine Anekdote besagt, dass er – dem eigentlich ein großer Dienstwagen zustand – eigenhändig einen VW-Käfer in Bonn gefahren hat, so dass er vom Ministerparkplatz vor dem Bundeshaus zurückgewiesen worden ist, da er sozusagen wegen Understatements nicht erkannt wurde.
Als Politiker hatte er in der Sache oftmals Recht. „Fortiter in re“ – das traf auf ihn zu. „Suaviter in modo“ eher nicht. Vielmehr war er vor allem am Rednerpult wie verwandelt: ein impulsiver Kämpfer, alles andere als ein Diplomat. Seine Tochter soll laut Spiegel einmal gesagt haben, "Das ist doch ein ganz anderer Mensch, das ist doch gar nicht Vati." Und diese Leidenschaft habe, so ein landläufiges Urteil, Dehler zwar befähigt, ein großer Politiker zu sein, aber ihn daran gehindert, ein noch besserer Justizminister zu werden.
Hinter dieser Bewertung steht das Bild einer vornehm-zurückhaltenden Justizpolitik. Da mag etwas Wahres dran sein, wiewohl es auch heute Themen gibt, bei denen man mit Zurückhaltung nichts erreichen könnte; ich denke an die Auseinandersetzung um die Frage, ob Telekommunikationsverbindungsdaten ohne Anlass und ohne Verdacht auf Vorrat gespeichert werden sollen – einer solchen Frage kann man sich doch nur mit Dehler‘scher Leidenschaft zuwenden, sei es als Befürworter oder als Gegner dieses Grundrechtseingriffs „bisher nicht gekannter Streubreite“, um das BVerfG zu zitieren.
Sine ira et studio vorzugehen war offenbar nicht Dehlers Sache. Trifft es zu, dass dies seine Arbeit als Bundesjustizminister behindert hat? Ich glaube das nicht.
Gerade den vier Jahren als Chef in der Bonner Rosenburg möchte ich deshalb einige Betrachtungen widmen und dabei die Frage aufwerfen, inwieweit es Bezüge zu den aktuellen rechtspolitischen Debatten gibt. Dabei will ich erstens auf die besonderen Anforderungen eingehen, denen sich Thomas Dehler als erster Justizminister der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland in der Gesetzgebung gegenüber sah. Zweitens möchte ich einen Blick auf die spezielle Thematik des Jugendstrafrechts werfen und drittens eine Deutung der bekannten Auseinandersetzung Dehlers mit dem Bundesverfassungsgericht zur Debatte stellen.
Thomas Dehler war Justizminister im ersten Kabinett Adenauer. Nur die kurze Zeitspanne von vier Jahren übte Dehler, was an seinem Zerwürfnis mit Adenauer lag, dieses Amt aus. Das war ein schmales Zeitfenster für jemanden mit einem so ausgeprägten Gestaltungswillen wie Thomas Dehler. Die Gesetzgebung ist in einem ausdifferenzierten Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland ein komplexes Unterfangen. Die vielen zu berücksichtigenden und abzuwägenden Interessen, die Beteiligung von Betroffenen und Verbänden, das Verhandeln über Gesetzestexte mit Koalitionsfraktionen, die unterschiedliche Akzente setzen, und mit der Opposition, die Austarierung von Bund- und Länderinteressen, heutzutage auch noch die Einbindung in ein europäisches Normengefüge, das alles erklärt, warum auch scheinbar einfache Gesetzesvorhaben einen relativ langen zeitlichen Vorlauf haben (es sei denn Eilmaßnahmen wie das Aufspannen von Rettungsschirmen gebieten ein extrem hohes Gesetzgebungstempo). Was beispielsweise jetzt, also zur Sommerpause 2012, noch nicht ins Gesetzgebungsverfahren eingespeist worden ist, hat kaum noch eine Chance, bis zum Ende der Legislaturperiode im Herbst 2013 das Licht des Bundesgesetzblattes zu erblicken.
Mag dies heute womöglich noch komplizierter gewesen sein, sehr viel anders waren die Abläufe in der Amtszeit von Thomas Dehler sicherlich auch nicht. Umso eindrucksvoller ist die Leistung, in diesen kurzen vier Jahren so viel an grundlegender Gesetzgebung für den Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland geleistet zu haben.
Dehlers mehrfache Nachfolgerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat für eine Bamberger Rede am 22. September 2009 einiges aufgelistet:
Neunundsiebzig Gesetze, die federführend vom Bundesministerium der Justiz erarbeitet worden waren, trugen am Ende der ersten Legislaturperiode Dehlers Unterschrift. Die gesamte überkommene Rechtsordnung Deutschlands, musste auf ihre Verträglichkeit mit dem Grundgesetz, und den zwischenzeitlich gewandelten Rechtsanschauungen überprüft werden. mussten, die verlorengegangene Rechtseinheit wiederhergestellt werden. Auch die Gründung des Bundesgerichtshof und des Bundeserfassungsgericht fielen in die Amtszeit Thomas Dehlers.
Vor allem prägte Dehler dauerhaft das Verständnis von der Rolle des BMJ, dem eben nicht nur die Aufgabe zukam, die „Rechtsförmlichkeit“ von Gesetzen zu prüfen. Dehler beanspruchte, das Justizministerium zum Garanten für die Einhaltung des Grundgesetzes zu machen.
Die rechtspolitische Bilanz nach vier Jahren war also eindrucksvoll und widerlegt die Bewertung, Dehler sei mehr Rhetoriker als Macher gewesen. Er war beides.
Nun zum zweiten Aspekt, zum Jugendstrafrecht. Dessen Reform verstand Dehler als ersten Schritt für eine aus seiner Sicht seit langem überfälligen großen Strafrechtsreform einzuleiten. Letztere kam später, die Bereinigung des Jugendstrafrechts von nationalsozialistischem Gedankengut und eine Hinwendung vom Vergeltungs- zum Erziehungsstrafrecht brachte aber noch Thomas Dehler 1953 zustande. Mit den damaligen Neuerungen wie der Einführung hauptamtlicher Bewährungshelfer hatte die Bundesrepublik in der Tradition des großen Gustav Radbruch wieder Anschluss an internationale Entwicklungen im modernen Jugendstrafrecht gewonnen.
Das Jugendgerichtsgesetz von 1953 hat in vorbildlicher Weise die Besonderheiten in der Entwicklung junger Menschen aufgegriffen und den Richtern flexible, personenbezogene Reaktionsmöglichkeiten auf jugendliche Delinquenz an die Hand gegeben. Der Vorrang des Erziehungsgedankens hat sich über die Jahrzehnte hinaus bewährt. Ich habe daher im Deutschen Bundestag, als vor kurzem die jugendstrafrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten erweitert worden sind, bewusst an diese Leistung Thomas Dehlers erinnert. Denn wir wollten mit den beiden, übrigens nicht von der Wissenschaft, aber von Praktikern geforderten ergänzen (Anhebung der Höchststrafe bei Mord in bestimmten Fällen auf 15 Jahre Jugendstrafe; Streichung des Verbotes, neben Bewährungsstrafe Arrest zu verhängen) das von Thomas Dehler herrührende Grundgerüst des Jugendstrafrechts keineswegs beseitigen, sondern daran festhalten und es nur in zwei Punkten ergänzen. Es wird jetzt an der Praxis liegen, diese neuen Reaktionsmöglichkeiten adäquat einzusetzen.
Mehr Kopfzerbrechen bereitet dem Exegeten der bekannte Ausspruch von Thomas Dehler: „Das Bundesverfassungsgericht ist in einer erschütternden Weise von dem Wege des Rechts abgewichen und hat dadurch eine ernste Krise geschaffen.“
Bundespräsident Theodor Heuss hatte das Bundesverfassungsgericht um ein Rechtsgutachten zu der Frage gebeten, ob der Vertrag über die Gründung einer die Bundesrepublik Deutschland einschließenden Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) mit dem Grundgesetz vereinbar sei.
Diese Frage wurde vom Bundesverfassungsgericht mit einem Beschluss vom Dezember 1952 bejaht und festgestellt, dass die Senate des Gerichts in Urteilsverfahren an die verfassungsrechtlichen Aussagen eines Senatsgutachtens gebunden seien.
Darin sah Thomas Dehler eine vom Grundgesetz und vom Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht gedeckte Anmaßung.
Thomas Dehler hat dies so scharf formuliert, wie es derzeit kein Politiker trotz der vor der ESM-Entscheidung am 12.9.2012 angespannten Situation wagen würde. Dehler ging es dabei sicherlich nicht um eine persönliche Beschimpfung, auch wenn seine Freundschaft mit dem damaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Höpker-Aschoff zerrüttet wurde. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger dürfte in ihrer Bamberger Rede vom 22.9.2009 den Schlüssel zum Verständnis der Dehler-Äußerung gefunden haben.
Sie zitierte Dehler nämlich umfassend. Er hatte die These kritisiert, dass das Bundesverfassungsgericht „eine Überregierung und ein Überparlament“ sei. dagegen stehe laut Dehler „die richtige Meinung, dass das Bundesverfassungsgericht ein Gericht ist, ein echtes Gericht und nur ein Gericht, dass seine Entscheidungen ausschließlich Rechtsentscheidungen sind, dass es nicht Herr der Verfassung, sondern Hüter der Verfassung ist, und dass es das Recht, und nur das Recht anzuwenden hat.“
Dehler hatte also die Sorge, dass das Bundesverfassungsgericht sich als ein weiterer politischer Akteur etablieren wolle. Er benannte also einen Grundkonflikt, der seit Gründung des Bundesverfassungsgerichts immer wieder thematisiert worden ist, übrigens in der Rechtswissenschaft auch in einer Kontroverse zwischen meinem Doktorvater Ekkehard Schumann und Peter Häberle.
Schumann folgte der Auffassung Dehlers, das Bundesverfassungsgericht solle als Gericht Rechtsstreitigkeiten entscheiden und dabei das Grundgesetz auslegen, aber nicht selber Recht schöpfen. Die Politik hat einen breiten Gestaltungsspielraum, der aber durch die Verfassung eingegrenzt wird. Ein Verfassungsgericht hat darauf zu achten, dass dieser Rahmen eingehalten wird, soll aber nicht selber Politik betreiben. In der Theorie ist diese von mir jetzt simplifizierend vorgetragene Arbeitsteilung noch relativ gut nachvollziehbar. In der Praxis sind die Übergänge oft fließend. Dass der Staat einem nicht mehr als 50 % an Steuerbelastung zumuten darf, ist mir als Liberalen äußerst sympathisch. Ob dieser Halbteilungsgrundsatz wirklich dem Grundgesetz zu entnehmen ist, ist schon nicht mehr so einfach zu beantworten. Das Bundesverfassungsgericht hat dies jedenfalls aus der Eigentumsgarantie des Artikels 14 herausgelesen. In vielen – durchaus bedeutenden Entscheidungen hat Karlsruhe den Parlamentariern minuziöse Vorgaben gemacht. Oft war dies auch dringend notwendig, weil es in der streitigen politischen Auseinandersetzung sonst zu keiner Lösung gekommen wäre. Zu Recht hat sich also das Bundesverfassungsgericht über die Jahrzehnte höchste Autorität erworben.
Und dennoch: Das von Dehler angesprochene Spannungsverhältnis kann nahezu tagtäglich aufs Neue besichtigt werden. Gerade die per Fax wenige Sekunden nach der parlamentarischen Schlussabstimmung eingebrachten Klagen gegen ESM und Fiskalpakt zeigen, auf welch schmalem Grad zwischen nationalem Verfassungsrecht und internationaler Politik sich die Karlsruher Richter bei den Entscheidungen, die ihnen abverlangt werden, bewegen. Die Position von Thomas Dehler war klar. Ein Gericht hat die Legitimation Recht zu sprechen, es hat aber auch nur diese Legitimation. Das war von Dehler weitsichtig und richtig gedacht. Darauf wollte er, wenn auch mit drastischen Worten, hinweisen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Schon dieser kursorische Rückblick auf das kurze Wirken von Thomas Dehler als Bundesjustizminister, das ja wiederum nur einen kleinen Ausschnitt seines Lebenswerks darstellt, zeigt die Berechtigung des Titels meines Vortrags, nach dem Vermächtnis von Thomas Dehler zu fragen. Denn sowohl die vielfältige grundlegende Gesetzgebungsarbeit, die zwischen 1949 und 1953 geleistet worden ist, wie auch Reformen im Speziellen – als Beispiel habe ich das Jugendstrafrecht erwähnt – und die durchaus provokante Benennung eines Grundproblems an der Schnittstelle von Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit zeigt auf, dass uns die Themen und Thesen von Thomas Dehler heute noch intensiv beschäftigen. Das ist ein großartiger Ausweis für die Bedeutung seines Wirkens.
Daher ist es kein Verstoß gegen den Grundsatz „de mortuis nil nise bene“, wenn ich abschließend noch auf einen offenen Punkt hinweise, der von der heutigen Generation im BMJ zu bearbeiten ist. Wir sind Zeuge vieler Transformationsprozesse geworden, angefangen von Südafrika über die von freiheitsliebenden Bevölkerungen erwirkten Systemänderungen in Mittel- und Osteuropa bis hin zu der von Thomas Dehler stets ersehnten Wiedervereinigung in Deutschland. Die Geschichtswissenschaft stellt daher heute die Frage, wie beim Übergang von einer Diktatur in eine Demokratie das vergangene Unrecht aufgearbeitet wird, und es rückt neuerdings in den Mittelpunkt des Interesses das Thema, wie man denn mit den Eliten der überwundenen Diktaturen umgeht. Im Bundesjustizministerium hat es dazu in der Vergangenheit durchaus Forschungen gegeben, jedoch keine umfassende Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Dies nachzuholen, hat sich Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zum Ziel gesetzt. Sie hat ein Forschungsprojekt initiiert. Bei einem Symposium zu Beginn dieses Projekts am 26. April 2012 konnte die Frage noch nicht recht geklärt werden, warum in der Frühphase der Bundesrepublik Deutschland auch im Bundesjustizministerium Beamte, die sicherlich Spitzenjuristen waren, aber eben stark NS-belastet gewesen sind, ihre Tätigkeit im Ministerium fortsetzen durften. Thomas Dehler ist bestimmt jeglicher Nachlässigkeit gegenüber dem Nationalsozialismus unverdächtig. Er war vielmehr ein entschiedener Gegner der Nazis.
Es lässt einen daher fast ratlos, warum gerade er so viel Verständnis zum Verhalten der deutschen Richterschaft in der Nazidiktatur geäußert hat. War seine Auffassung, dass „der größte Teil unserer Richter gegen den Nazismus immun geblieben“ sei, nicht zu generös? Und liegt darin der Schlüssel zu der Art und Weise, wie der Transformationsprozess im BMJ abgelaufen ist?
Es mag auch sein, dass es zunächst darum ging, die Arbeitsfähigkeit des Hauses zu erhalten, und dass man deshalb darauf verzichtete, umfänglich Führungseliten auszuwechseln. Eine andere These, die auf dem oben genannten Symposium formuliert worden ist, lautete: Es war soviel an Gesetzgebungsarbeit zu leisten, dass die Zeit gar nicht reichte, sich auch noch dem Thema unerwünschter personeller Kontinuitäten zu widmen.
Beide Ansätze befriedigen noch nicht recht.
Man darf auf die künftigen Forschungsergebnisse gespannt sein.
Thomas Dehler hat in seinem politischen Wirken so viele Stürme erlebt. Es wird das Bild, das sie Geschichtsschreibung von ihm gezeichnet hat, abrunden, aber vermutlich nicht wesentlich abändern, wenn dieser zusätzliche Aspekt der Gründungsgeschichte des Bundesjustizministeriums geklärt wird, so gut das eben nach mehr als sechzig Jahren möglich ist.
Unabhängig davon ist eines längst geklärt: Thomas Dehler ist einer der ganz großen in der stolzen Reihe der namhaften Persönlichkeiten an der Spitze des Bundesjustizministeriums, er ist einer bedeutendsten Verfechter - im wahrsten Sinne des Wortes - des politischen Liberalismus in Deutschland und er ist - das erscheint mir am wichtigsten - einer der maßgeblichen Gründungsväter des liberalen Rechtsstaates. Somit hat er eine Tradition begründet, die zu wahren unsere Aufgabe als heutige Juristen- und Politikergeneration ist.
Das ist das Vermächtnis von Thomas Dehler.