Dr. Max Stadler Startseite


11.10.2011

Rede zum 5. Luxemburger Expertenforum zur Entwicklung des Unionsrechts

Thema: „Der Schutz des Einzelnen als schwächere Vertragspartei“ am 10.10.2011

Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren Richter,
sehr geehrter Damen und Herren Generalanwälte,
sehr geehrter Damen und Herren,

für diese Veranstaltung und möchte ich Ihnen zunächst herzliche Grüße von Frau Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger übermitteln. Sie bedauert es, dass sie heute nicht hier sein kann. Denn sie schätzt diesen Veranstaltungsrahmen aufgrund der interessanten und anspruchsvollen Themen und der angenehmen Diskussionsatmosphäre sehr.

Das diesjährige Thema meines Panels „Der Schutz des Individuums als Verbraucher“ hat mich Zeit meines Berufslebens begleitet, insbesondere auch als ehemaliger Zivilrichter. Während meiner Studienzeit war beispielsweise das Herausarbeiten von Kriterien zum Schutz des Individuums bei der Verwendung Allgemeiner Geschäftsbedingungen oder Formularverträgen weitgehend noch der Rechtsprechung und der Wissenschaft überlassen; der Gesetzgeber zeichnete erst später im AGB-Gesetz diese Entwicklung nach. Ein relativ frühes Beispiel im nationalen Recht bildete dann das Reisevertragsrecht. Aus der europäischen Perspektive erscheint mir die Thematik besonders interessant.

I.
Ich möchte mich dem Thema über drei Thesen nähern, die Ihnen auch vorliegen:

1. Der Schutz der schwächeren Vertragspartei ist ein wesentliches Element des Harmonisierungsprogramms der Union, vor allem im Verbraucherschutzrecht. Dies betrifft vorrangig die Frage der Vertragsgestaltung. Dieser Schutzgedanke ist aber auch als Element der Durchsetzung von Rechten von Bedeutung, etwa bei der Festlegung der internationalen Zuständigkeit von Gerichten.

2. Sekundärrecht zur Mindestharmonisierung bezweckt und dient dem Schutz der schwächeren Vertragspartei. Es garantiert den unionseinheitlichen Mindestbestand. Es erlaubt zugleich die Festlegung eines darüber hinausgehenden nationalen Verbraucherschutzniveaus. Vollharmonisierendes Sekundärrecht erfüllt dagegen primär die Bedürfnisse der Unternehmen im Binnenmarkt durch die Schaffung einheitlicher Zugangsbedingungen auf dem grenzüberschreitenden Markt. Der Schutz der schwächeren Vertragspartei wird bei Vollharmonisierung auf ein für die Mehrheit der Mitgliedstaaten akzeptables Niveau eingependelt. Das ist dann tendenziell eher ein mittleres Niveau. Innerstaatliche Regelungen von hohem Verbraucherschutzniveau müssen dabei zum Nachteil der schwächeren Vertragspartei aufgegeben werden.

3. Unionsrechtlichen Schutz der schwächeren Vertragspartei gewährleistet vor allem auch der Gerichtshof der Europäischen Union durch seine Auslegung der unionsrechtlichen Verbraucherschutzgesetzgebung. Die strikte Gewährleistung dieses Schutzes verbessert die rechtliche Situation der schwächeren Vertragspartei, bewirkt aber in der Regel eine Belastung des Unternehmers, der versuchen wird, diese Belastung über den Produktpreis an den Verbraucher weiterzugeben.

II.
Zu der ersten These:
Die Rolle der schwächeren Vertragspartei hat sehr früh vor allem im Harmonisierungsprogramm der Union im Bereich des Verbraucherschutzes eine Rolle gespielt. Zwar wurde der Verbraucher hier primär als Teilnehmer am Wirtschaftsverkehr verstanden. Nicht so sehr wurde auf eine spezielle Schutzbedürftigkeit abgestellt. Dies zeigt sich auch daran, dass der Verbraucherschutz im Primärrecht erst spät thematisiert wurde.
Trotz des zunächst vorrangig wirtschaftspolitischen Ansatzes wurde schnell deutlich, dass Verbraucherschutz in dem Spannungsfeld der Verwirklichung der Grundfreiheiten und des Binnenmarktes zu sehen ist. Ein Schwerpunkt liegt dabei bei den Regelungen zum Vertragsabschluss und bei den im Zusammenhang mit dem Vertrag bestehenden Rechte und Pflichten der Parteien. Ein anderer Aspekt ist allerdings auch die Durchsetzung von Ansprüchen vor Gericht. Auch hier spielt insbesondere bei der Frage der internationalen Zuständigkeit von Gerichten der Schutz der schwächeren Vertragspartei eine wichtige Rolle, der sich die Union angenommen hat.  

III.
Zweiter Aspekt: das Regelungsniveau und die Auswirkungen auf den Verbraucherschutz.
Das Primärrecht spielt bei der Frage des Schutzes der schwächeren Vertragspartei keine entscheidende Rolle. Vielmehr enthält das Sekundärrecht eine Vielzahl von Richtlinien, die in bestimmten Sachbereichen sehr differenzierte Regeln gerade auch zum Schutz der schwächeren Vertragspartei treffen. Beispielhaft möchte ich nur nennen:

•    die Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz;
•    die Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter;
•    die Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen;
•    und die noch nicht verabschiedete Richtlinie über Rechte der Verbraucher.

Erwähnen möchte ich auch die die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Sie regelt unmittelbar für alle Mitgliedstaaten unter anderem einen Verbrauchergerichtsstand für die schwächere Vertragspartei. Der Schutz der schwächeren Partei durch Verfahrensregeln ist durchweg zu begrüßen. Denn die Rechtsdurchsetzung ist notwendiger Bestandteil der Rechtsgewährung. Daher ist ein im Verfahrensrecht notwendiger Gleichklang durch Verordnung sinnvoll und geboten.
Diese sekundärrechtlichen Regeln, die Einfluss auf die Vertragsgestaltung nehmen und zumeist zwingendes Recht zum Schutz der Verbraucher enthalten, sind durchweg als Richtlinien ausgestaltet, die das Ziel der Mindestharmonisierung verfolgen. Sie garantieren damit einen unionseinheitlichen Mindestbestand. Für die Mitgliedstaaten bedeutet dies zugleich die Möglichkeit für die Festlegung eines darüber hinausgehenden nationalen Verbraucherschutzniveaus.
Hier wird das Spannungsverhältnis zu den Binnenmarktzielen greifbar. Denn unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sind die einzelstaatlichen stärkeren Schutzmechanismen zugunsten der schwächeren Vertragspartei mit Hindernissen für den Marktzugang des Unternehmers auf dem grenzüberschreitenden Markt verbunden.

In der Gesamtentwicklung des Unionsrechts kann daher als wichtiger Grund für die Trendwende zur Vollharmonisierung im Bereich des Verbraucherschutzes vor allem die Befriedigung der Bedürfnisse des Binnenmarktes festgestellt werden. D.h.: Steht die Vollharmonisierung in Rede, geht es ganz wesentlich um die Schaffung einheitlicher Zugangsbedingungen der Unternehmer auf dem grenzüberschreitenden Markt.
 
Diese Vollharmonisierung führt dann zu einem – insgesamt betrachtet – zwar akzeptablen mittleren Verbraucherschutzniveau in der Union. Allerdings bleibt als Kehrseite der Medaille: Innerstaatliche Regelungen mit einem höheren Verbraucherschutzniveau müssen im Ergebnis zum Nachteil der schwächeren Vertragspartei aufgegeben werden. Ein unionsrechtliches Schutzverständnis, aber auch ein unionsrechtliches Schutzniveau tritt an die Stelle der innerstaatlichen Vorstellungen und Erfahrungen. Dies kann aber im Ergebnis nur ein Kompromiss der 27 Mitgliedsstaaten sein.
Aus der vor ihrer Verabschiedung stehenden Verbraucherrechte-Richtlinie (VRRL) lassen sich Beispiele dafür benennen, dass innerstaatliche Regelungen mit einem höheren Verbraucherschutzniveau, als sie in der Richtlinie vorgesehen sind, als Kehrseite der Vollharmonisierung aufgegeben werden müssen.

Beispiel Artikel 11 VRRL „Ausübung des Widerrufsrechts“

Artikel 11 Absatz 1 VRRL sieht vor, dass der Verbraucher zur Ausübung seines Widerrufsrechts eine Erklärung abgeben muss, aus der sein Entschluss zum Widerruf des Vertrags eindeutig hervorgeht. Anders als das deutsche (§ 355 Absatz 1 Satz 2 BGB) und österreichische Recht reicht die bloße Rücksendung der Ware ohne jede Erklärung nicht mehr aus. Hierin liegt eine Verringerung des Verbraucherschutzes in Deutschland und Österreich, die mit der Vollharmonisierung verbunden ist.

Ggf. Weiteres Beispiel: Artikel 18 VRRL „Lieferung“

Liefert der Unternehmer die Ware nicht fristgemäß an den Verbraucher gemäß Artikel 18 Absatz 1 VRRL, bestimmt Artikel 18 Absatz 2 Satz 2 VRRL, dass der Verbraucher von dem Vertrag zurücktreten kann, wenn er den Unternehmer aufgefordert hat, die Lieferung innerhalb einer angemessenen zusätzlichen Frist vorzunehmen, und der Unternehmer auch diese zusätzliche Frist nicht einhält.

Das Erfordernis dieser zusätzlichen Fristsetzung entspricht der deutschen Rechtslage. Nicht vorgesehen ist es dagegen in den Rechtsordnungen Spaniens, Großbritanniens, Irlands, Portugals und Lettlands, die ein unmittelbares Rücktrittsrecht des Verbrauchers im Falle nicht rechtzeitiger Lieferung der Ware durch den Unternehmer geregelt haben. Für diese Staaten bedeutete die Umsetzung des Artikels 18 Absatz 2 VRRL also eine Verringerung des Verbraucherschutzes. Spanien hat angekündigt, unter anderem aus diesem Grund der Richtlinie nicht zuzustimmen.

GGf. weiteres Beispiel Artikel 16 VRRL „Ausnahmen vom Widerrufsrecht“

Artikel 16 (m) VRRL schließt für digitale Inhalte, die sich nicht auf einem körperlichen Datenträger befinden, bereits dann ein Widerrufsrecht des Verbrauchers aus, wenn der Unternehmer mit der Übermittlung der Daten begonnen und der Verbraucher dem ausdrücklich in dem Wissen zugestimmt hat, durch den Beginn der Übermittlung sein Widerrufsrecht zu verlieren. Hiermit ist eine Schwächung des Verbraucherschutzes im deutschen Recht (§ 312 d Absatz 3 BGB) verbunden: Nach deutschen Recht erlischt das Widerrufsrecht bei einer Dienstleistung bisher erst, wenn der Vertrag von beiden Seiten auf ausdrücklichen Wunsch des Verbrauchers vollständig erfüllt ist, bevor der Verbraucher sein Widerrufsrecht ausgeübt hat, oder die zweiwöchige Widerrufsfrist abgelaufen ist.

Diese Änderung kann erhebliche Auswirkungen etwa für einen Verbraucher haben, der ein Virenschutzprogramm mit regelmäßigen Updates im Internet erwirbt. Nach geltendem deutschen Recht steht dem Verbraucher hier nach Vertragsschluss die volle zweiwöchige Widerrufsfrist zu, um auszuprobieren, ob das Programm seinen Vorstellungen entspricht. Demgegenüber wird das Widerrufsrecht künftig grundsätzlich schon mit dem Beginn des Herunterladens des Programms ausgeschlossen sein.

IV.
Drittens: Welche Rolle nimmt in dieser Gemengelage der Gerichtshof der Europäischen Union ein?
Der Gerichtshof leistet meiner Meinung nach einen entscheidenden Beitrag zum Schutz der schwächeren Vertragspartei. In der Regel erfolgt dies durch die Auslegung von verbraucherschützendem Sekundärrecht im Rahmen der Vorabentscheidungsersuchen. Es fällt auf, dass die vorgelegten Fallgestaltungen in der Regel keine Binnenmarkthindernisse des Unternehmers betreffen. Vielmehr geht es regelmäßig um die schutzsuchende schwächere Vertragspartei und ihre Rechte gegenüber dem Unternehmer. Dies liegt in der Struktur der Fälle, die den Gerichtshof erreichen.

Aus diesem Blickwinkel heraus und unter Berücksichtigung dieser Ausgangslage liegt es nahe, dass der Gerichtshof meist  den Schutz der schwächeren Vertragspartei im Wege der Auslegung weiter ausbaut. Interessant ist z. B: die Rechtsprechung zur Richtlinie über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz. Hier wurde die Schutzposition des Verbrauchers abgerundet, zum Teil auch ergänzt, etwa durch die Feststellung, dass der Verbraucher die Kosten für die Zusendung der Ware nicht zu tragen hat, wenn er den Vertrag widerruft oder dass ein genereller Anspruch auf Wertersatz für die Nutzung der Ware innerhalb der Widerrufsfrist nicht zulässig ist. In anderer Weise instruktiv ist die Kasuistik z. B. zur Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen. Sie enthält z. T. inhaltliche Schärfungen von Begrifflichkeiten der Richtlinie, steckt aber im Wesentlichen den Prüfungsrahmen für die nationalen Gerichte ab.

Gemeinsam ist der Rechtsprechung eines: Sie ist recht deutlich auf die Verbesserung der Position der schwächeren Vertragspartei ausgerichtet. Das kann zu zusätzlichen finanziellen Belastungen der Unternehmen führen. Der Unternehmer muss etwa zusätzlichen Aufwand betreiben, um Verbraucher besser zu informieren.

•    Oder er muss Kostenpositionen übernehmen, die Handlungen außerhalb seines Einflussbereichs betreffen, etwa hinsichtlich der Verschlechterung der Ware durch die Nutzung innerhalb der Widerrufsfrist.
•    Oder er muss Unsicherheiten in Vertragsverhältnissen einkalkulieren, die vertraglich nicht Vereinbartes betreffen, etwa wenn er neben der Gewährleistung für die Mangelfreiheit einer gelieferten Sache auch noch die Kosten für den Ausbau der mangelhaften Sache und den Einbau der Ersatzsache übernehmen soll.

Hier muss man aufpassen, dass sich der Schutz der schwächeren Vertragspartei nicht zu ihrem Nachteil wendet. Denn der Unternehmer wird versuchen, diese Risiken künftig bei der Preisfestsetzung einzukalkulieren. Das könnte zu Preissteigerungen führen.

Ich formuliere bewusst im Konjunktiv, denn es wäre zu mechanistisch gedacht, wenn man einfach sagen würde: mehr Verbraucherschutz ist immer für den Verbraucher teurer. Denn das Marktgeschehen ist selbstverständlich komplex. Preiserhöhungen muss man erst einmal auf dem Markt durchsetzen können. Funktionierender Wettbewerb sollte im Idealfall als Gegengewicht preisdämpfend wirken. Vielleicht ist der eingangs erwähnte Reisemarkt hierfür ein Beispiel.

Dennoch erreichen uns auch Beschwerden, dass Unternehmen sogar versuchen, unter Berufung auf Ihnen zusätzlich vorgegebenen Verbraucherschutz sozusagen überobligationsmäßig Preiserhöhungen durchzusetzen. Solche Vorwände müsste eigentlich der Markt korrigieren, aber dieser Mechanismus funktioniert anscheinend nicht immer.

Daher komme ich zu dem Fazit: Die stetige Verbesserung des rechtlichen Schutz der schwächeren Vertragspartei ist aus dem Blickwinkel der betroffenen Partei sicher erstrebenswert. Es sollte aber das gleichzeitig darin liegende Spannungsverhältnis zu den finanziellen Auswirkungen sorgsam betrachtet werden.

 

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