Dr. Max Stadler (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Am 8. März hat Bundesinnenminister Schäuble in einem Interview das Bundesverfassungsgericht kritisiert, weil es sich mit der einstweiligen Anordnung gegen die Vorratsdatenspeicherung angeblich zu sehr in die Politik einmische. Wir teilen diese Auffassung ganz und gar nicht. Ganz im Gegenteil! Wenn der Bundestag Gesetze verabschiedet, die unzulässig in die Grundrechte eingreifen, dann ist es die Pflicht der Karlsruher Richter, sich einzumischen. Und das hat das Bundesverfassungsgericht getan.
(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Herr Gehb, Sie wissen genau: Andere Gesetze, über die wir hier streitig verhandelt haben, stehen dort noch zur Prüfung an. Sie können sich nicht darauf berufen, dass alles, was Sie hier gemacht haben, problemlos gewesen sei.
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt! Aber es ist nichts aufgehoben worden! Sie müssen gut zuhören!)
Ich komme jetzt zu dem entscheidenden Punkt, den Herr Kauder angesprochen hat. Unser Eindruck aus der Gesetzgebung der letzten Jahre nicht nur der Großen Koalition, sondern auch der rot-grünen Vorgängerregierung ist in der Tat, dass hier das praktiziert wird, was Sie beschrieben haben, nämlich dass man an die Grenzen der Verfassung geht.
(Zuruf von der CDU/CSU: Muss man ja!)
Wenn man an die Grenzen der Verfassung geht, läuft man aber Gefahr, dass man diese Grenzen überschreitet.
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [fraktionslos])
Sie können doch nicht bestreiten, dass das Bundesverfassungsgericht in einer Fülle grundlegender Entscheidungen der letzten Jahre die Gesetzgebung korrigiert hat, und zwar – das gebe ich zu – nicht nur des Bundestags, sondern auch von Landesparlamenten. Das sollte Anlass sein, darüber nachzudenken, ob es die richtige Politik sein kann, bei Eingriffen in die Bürgerrechte immer sozusagen den äußersten Spielraum auszunutzen. Wir meinen, der Bundestag selber, die Parlamente selber müssen eine grundrechtsorientierte Gesetzgebung betreiben.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel für das, was ich meine, das bisher nicht im Mittelpunkt der Reden gestanden hat, mir aber unvergesslich bleiben wird. Sie haben als Große Koalition Einschränkungen beim Ehegattennachzug von Ausländern beschlossen. Das ist aufgrund unserer Kritik und der Kritik der anderen Oppositionsfraktionen hier streitig verhandelt worden. Der Vorsitzende des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, der Kollege Edathy, hat im Plenum gesagt, er stimme dem Gesetz zwar zu, aber er sei sicher, dass es vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben werde.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er wünscht es sich! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich! Er hoffe es sogar!)
– Er hoffe sogar darauf.
Das heißt, Teile des Gesetzgebers beschließen hier Gesetze, von denen sie selber der Meinung sind, sie seien verfassungswidrig.
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [fraktionslos])
Das können wir als Opposition doch nicht unkommentiert einfach nur zur Kenntnis nehmen; darauf muss man hinweisen dürfen.
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das dürfen Sie doch auch!)
– Einen Moment! Ich komme gerade zu Ihnen. – Ich will später das Protokoll lesen, aber wenn ich es richtig im Ohr habe, haben Sie vorhin gesagt, Herr Gehb, dass wir Freien Demokraten, wir Liberalen, mit unserer Kritik daran, dass der Gesetzgeber Grundrechte nicht genügend beachtet, Extremisten stark machen würden. Das ist ein so ungeheuerlicher Vorwurf,
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [fraktionslos])
dass Sie gut daran täten, sich jetzt und hier zu entschuldigen, Herr Kollege Gehb; darauf warten wir noch.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Jörg Tauss [fraktionslos] – Lachen des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU])
Ich komme zum Ende und will einen vielleicht versöhnlichen Abschluss finden. – Manchmal kommen Vorlagen, die im Bundestag gescheitert sind – ich denke etwa an die Vorratsdatenspeicherung; da haben wir einmal einstimmig gesagt: das wollen wir nicht –, über Europa zurück, natürlich deshalb, weil die Bundesregierung sie dort gebilligt hat.
(Brigitte Zypries [SPD]: Nein!)
Deswegen ist es sehr begrüßenswert – das sage ich als überzeugter Europäer –, dass das Bundesverfassungsgericht in den Randnummern 240 und 241 der Lissabon-Entscheidung sich eine Prüfungskompetenz bezüglich grundrechtseinschränkender Rechtsakte der Europäischen Union vorbehalten hat.
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Natürlich!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Dr. Max Stadler (FDP):
Ich schließe mit folgendem Ausblick: Das Verfassungsgericht hat uns den Hinweis gegeben, für diese wichtige Grundrechtsüberprüfung doch einen eigenen Rechtsweg vorzusehen. Wir schlagen vor, dem jetzt gleich im August und im September im Begleitgesetz nachzukommen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jörg Tauss [fraktionslos])